Aus einigen Städten habe ich bereits Inspiration für den Blog des Bonner Radentscheids mitgebracht (Utrecht, Maastricht, Groningen, San Sebastian). Allen Städten war gemein, dass sie nicht in Deutschland lagen. Wir alle wissen, dass es in Deutschland besonders schwer zu sein scheint, angemessene Radinfrastruktur zu planen und zu bauen. Schön, dass es auch in unserem Land positive Beispiele gibt! Aus Tübingen habe ich einiges zu berichten mitgebracht.
Zentrale Radgarage am Hauptbahnhof
Tritt man nach Ankunft in der Stadt aus dem Tübinger Bahnhofsgebäude, so steht man auf einem anscheinend erst kürzlich komplett neu gestalteten Platz. Hier befindet sich der großzügige Busbahnhof. Überquert man diesen, so steht man vor dem ersten Radverkehrs-Highlight der Stadt: einer nagelneuen Radstation (Webseite) mit Werkstatt, Radverleih, Café – und einer großen Radtiefgarage für ca. 1.100 Fahrräder im Keller. In diese Garage kann man natürlich mit dem Fahrrad hineinfahren:

Unten drin ist es hell und sauber. Es gibt kostenlose Parkbereiche, die videoüberwacht sind sowie einen kostenpflichtigen Bereich für Dauerparker, der durch ein Tor mit Zugangscode nochmals besser gesichert ist. Die Jahreskarte für diesen Bereich kostet 75€.


Ich bin unter der Woche um die Mittagszeit in der Radgarage und stelle fest, dass diese sehr gut belegt ist – trotz der durchaus hohen Anzahl an Stellplätzen. Tübingen hat nicht mal ein Drittel der Einwohnerzahl Bonns (92.000 zu 323.000) und fast nebenan gibt es mit dem sogenannten Radexpress noch eine zweite ebenfalls gut besuchte Radgarage mit noch mal ca. 300 Stellplätzen.
Dieser Eindruck zeigt ganz gut, was in Bonn fehlt. Am Bonner Hbf gibt es die Radstation an der Quantiusstraße, die aber von Dauerparkern fast vollständig belegt ist. Darüberhinaus gibt es nur die sehr kleine (~180 Stellplätze), etwas abseits gelegene und schlecht benutzbare Garage in der Rabinstraße. Es ist gut, dass nun unter dem neuen ZOB und im geplanten neuen Parkhaus in der Quantiusstraße Radgaragen entstehen sollen. Blickt man auf die Situation in Tübingen, wirken die insgesamt ca. 1.400 neu zu bauenden Stellplätze in Bonn aber eher als das absolute Minimum, das eine Stadt dieser Größe benötigt. Von den Dimensionen in den Niederlanden fange ich hier erst gar nicht an.
Durchgängig Radfahren auf dem blauen Band
Ein Herzstück der Tübinger Radinfrastruktur ist das blaue Band (Infos auf der Webseite der Stadt Tübingen). Dieser durchgängige Radweg einmal quer durch die Tübinger Innenstadt ist quasi die Herzschlagader der Tübinger Radwege. Das blaue Band ist an vielen Stellen gut ausgebaut auf vier Meter Breite und ist weitestgehend vom Autoverkehr getrennt. An verschiedenen Stellen und an beiden Enden des blauen Bandes schließen Radwege in andere Stadtteile und ins Umland an.

Man merkt, dass das blaue Band nicht „mal eben so mitgeplant“ wurde als Anhängsel einer anderen Baumaßnahme, wie es beim Ausbau der Bonner Radinfrastruktur leider nach wie vor fast ausschließlich der Fall ist. Das Tübinger blaue Band ist eine durchgängig gut befahrbare Radroute. Das kommt daher, dass das Band als eigenständiges Verkehrsprojekt durchgängig geplant wurde. Straßenquerschnitte wurden im Rahmen dieser Maßnahme neu aufgeteilt.
Das geht so weit, dass an Engstellen wie einer Brücke eine zweite neue Brücke geplant und gebaut wurde, um dem Radverkehr ausreichend Platz zur Verfügung zu stellen und eine durchgängige Radroute zu ermöglichen.

Das blaue Band in Tübingen zeigt, wie Radinfrastruktur aussehen kann, wenn sie ernsthaft als eigenständiges Projekt geplant und umgesetzt wird. In Bonn fehlt dieser Ansatz bisher. Unser gemeinsam mit dem ADFC erarbeiteter Vorschlag „10 Velorouten für Bonn“ kann eine gute Grundlage für die Planung durchgängiger Radrouten in unserer Stadt sein.
Eigene Brücken für den Radverkehr
Durch Tübingen führen – wie in Bonn – Bahngleise, die es für Auto-, Fuß- und Radverkehr zu überqueren gilt. Außerdem fließt durch die Stadt der Neckar, der zwar deutlich schmaler als der Rhein in Bonn ist, aber auch überwunden werden muss. Insgesamt also ein großes Potential für Brücken.
Brücken für den Radverkehr sind in Tübingen in den letzten Jahren gleich mehrere entstanden. Das Highlight ist ganz klar die Ann-Arbor-Brücke, die am westlichen Ende des blauen Bandes die Bahn überquert. Sehr elegant schlängelt sich die Brücke hoch und über die Gleise. An der Brücke kann man gut sehen, wie wenig massiv Verkehrsinfrastruktur sein kann wenn keine Autos auf ihr fahren. Achten Sie bei den beiden folgenden Fotos darauf, wie dünn die Brücke unter der Fahrbahn ist und wie schmal die Brückenpfeiler sind.


Diese nicht notwendige Massivität macht Fahrradinfrastruktur nicht nur elegant sondern auch deutlich günstiger als Autoinfrastruktur. Die Ann-Arbor-Brücke hat 16 Millionen Euro gekostet. Das klingt viel. Aber zum Vergleich: Der noch immer nicht abgeschlossene Neubau der Bonner Viktoriabrücke liegt bei mind. 65 Millionen Euro.
Die Ann-Arbor-Brücke zeigt gut, wie die in Bonn geplante Fußgänger- und Radbrücke über die Bahngleise zur Erschließung des Innovationsdreiecks an der Müllverbrennungsanlage in Höhe der Haltestelle Bonn-West aussehen könnte. Auch die Kosten dieser Brücke schätzt die Stadt Bonn aktuell auf ca. 16 Mio Euro.
Die Ann-Arbor-Brücke ist aber nicht die einzige neue Radbrücke in Tübingen. Über den Neckar wurden zwei weitere Radbrücken gebaut: Eine direkt parallel zu einer viel befahrenen Autobrücke, der es vollständig an Fuß- und Radinfrastruktur fehlt (Stuttgarter Straße).

Eine weitere direkt parallel zu einer Fußgängerbrücke (links im Bild), die zu schmal war, um Fußgänger- und Radverkehr zusammen aufzunehmen. Die beiden neuen Brücken sind ausreichend breit für Rad-Begegnungsverkehr und ermöglichen ein gutes, entspanntes Radfahren.

Toller Anschluss der Brücken ans Straßennetz
Gut gelöst ist auch der Anschluss der Brücken an das Straßennetz. Hier sticht wieder die Ann-Arbor-Brücke heraus. Auf der südlichen Seite trifft die Brücke auf eine auch von Autos befahrene Straße. Der Radverkehr wird im Seitenbereich der Straße auf getrennten, durchgängig eingefärbten Radwegen weitergeführt. Bemerkenswert: Da die Straße für den Autoverkehr eine eher untergeordnete Bedeutung hat, die Brücke für das Radverkehrsnetz aber zentral ist, hat der Radverkehr hier Vorrang vor dem Autoverkehr (Beachten Sie das Stopp-Schild im folgenden Foto). Was logisch klingt, ist in Bonn leider bisher völlig undenkbar.

Auf der nördlichen Seite schließt die Brücke an einen Kreisverkehr an – einen Radkreisverkehr wohlgemerkt. Autos fahren auf einer parallel verlaufenden Straße. Dieser Kreisverkehr zeigt, was entstehen kann, wenn man Radverkehr ernst nimmt und ein eigenes, vom Autoverkehr getrenntes Radwegenetz plant und baut.

Ein Tunnel für Fußgänger und Radfahrer
Ein weiteres tolles Stück Radverkehrsinfrastruktur ist der Schlossbergtunnel in Tübingen. Dieser ist nicht gerade neu. Bereits seit 1979 ist dieser Tunnel Fußgängern und Radfahrern vorbehalten. Er führt unter dem Schloßberg hindurch und bietet heute eine gute durchgängige Strecke, da im Süden in der Verlängerung die Ann-Arbor-Brücke über die Bahngleise anschließt.


Kleinere Beobachtungen: Neu aufgeteilte Straßen
Was mir beim Radeln durch Tübingen immer wieder auffällt: Viele Straßen wurden neu aufgeteilt. Autospuren wurden weggenommen, um eine neue, gerechtere Aufteilung des Straßenraums zwischen den Verkehrsarten zu erreichen.
Auf dem folgenden Foto z.B. sieht man noch an den dunkleren Stellen im Asphalt, dass hier mal zwei Autospuren waren (Geradeaus und Rechtsabbieger). Durch eine Neuaufteilung des Straßenraums konnte Platz für Radverkehr geschaffen werden, wo vorher überhaupt keine separate Radinfrastruktur vorhanden war. Natürlich ist dieser nur durch einen weißen Strich vom Autoverkehr getrennte Radweg nicht gerade die Idealvorstellung eines guten Radwegs – aber dieses Beispiel zeigt, wie durch sehr simple Maßnahmen erste Verbesserungen erzielt werden können.

Das folgende Foto zeigt einen Abschnitt der Wilhelmstraße in Tübingen. Auch hier wurde der Straßenraum neu aufgeteilt. Dem hier rege fahrenden Busverkehr wurde eine eigene Spur gegeben. Eine weitere Spur ist für den Radverkehr und eine dritte für den Autoverkehr. Auch das halte ich für ein gutes Beispiel einer gerechten Neuaufteilung des Straßenraums.

Alles toll in Tübingen?
Ist in Sachen Radverkehr also alles super in Tübingen? Nein, sicherlich nicht. Es gibt tolle Projekte, die in den letzten Jahren gute Radinfrastruktur geschaffen haben. Trotzdem sieht es auch auf vielen Tübinger Straßen nach wie vor so aus:

Das Radeln auf diesem schmalen Streifen neben Autos, die aufgrund der Zweispurigkeit eher deutlich über 50 km/h unterwegs waren, hat nicht gerade Spaß gemacht.
Auch neue Radinfrastruktur hat in mir teilweise eher Fragezeichen als Begeisterung hervorgerufen. Auf der Eberhardsbrücke – der zentralen Neckarquerung in der Innenstadt – verläuft der Zweirichtungsradweg in der Mitte zwischen den Autospuren, getrennt lediglich durch einen weißen Strich Farbe. Auf den Autospuren sind auch sehr viele Busse unterwegs. Das ist abenteuerlich zu fahren und doch schon ein sehr großer Kompromiss.

Was macht Tübingen besser/schlechter als Bonn?
Was ist mein Fazit? Tübingen hat in den letzten Jahren einiges an toller Radinfrastruktur geschaffen. Was mich besonders beeindruckt hat, ist, dass hier mit dem blauen Band wirklich ein durchgängig gut befahrbarer Radweg entstanden ist. Das blaue Band zeigt, was entstehen kann, wenn man Radverkehrsprojekte als eigenständige Projekte plant und umsetzt. Hier hat Bonn noch sehr, sehr viel Aufholbedarf. Zwar ist auch bei uns in den letzten Jahren einiges an Radinfrastruktur entstanden und das Radfahren ist schon deutlich angenehmer geworden. Was in Bonn aber nach wie vor fehlt, sind durchgängige Routen. Dies liegt daran, dass die Stadt keine Radrouten als eigenständige Verkehrsprojekte plant. Neue Radinfrastruktur entsteht in Bonn bisher hauptsächlich dort, wo sowieso gebaut wird. So entsteht aber kein erlebbares gutes Radwegenetz. Wie man es besser machen kann zeigt Tübingen ganz gut.
